Klettern – Bewegung an der Grenze der Möglichkeiten

1997-2002 habe ich Russisch, Pädagogik, Philosophie und Psychologie auf Lehramt an der Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck studiert. Anbei das Abstract der Diplomarbeit von 2002.

Diese Diplomarbeit ist das Produkt eines persönlichen Verlangens nach Ordnung und Klarheit. Die Idee entstand durch Konfrontationen mit Aussagen, in denen Extremsportarten, besonders bei Jugendlichen, beispielsweise ausschließlich auf das Erleben des „Kicks[1]“ reduziert wurden. Diese Aussagen gründeten oft in Annahmen, die Gründe für das Betreiben[2] und Ansteigen[3] von Extremsportarten liefern, einige davon bezüglich der jugendliche ExtremsportlerInnen[4]. Annahmen, die nicht immer von Wissenschaftlern, die in diesem Gebiet (genug) Erfahrung haben, erstellt wurden. Daraus resultierend wurde Jugendlichen oft ein „Warum“ unterstellt und das „Wie“ vorgeschrieben.

Weiterst wurden auch in mediale Berichterstattungen über Sportunfälle nicht nur unvollständige Thesen verwendet, sondern auch keine Differenzierungen oder Spezifizierungen hinsichtlich der Altersgruppe der Verunfallten oder der Sportart durchgeführt. Verallgemeinerungen traten auf, die als Unfallursache bei „den Extremsportarten“ des öfteren „das Risiko“ oder „die Suche nach dem Kick“ angaben[5]. Da ich mich selbst seit vielen Jahren mit Klettern, Wildwasserfahren und ähnlichen Trend- und Natursportarten beschäftige, entstand der Wunsch, bestehenden Theorien nachzuspüren, sie auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen und Differenzierung vorzunehmen. 

Die Relevanz der Thematik erklärt sich aber nicht nur aus persönlichen Einstellungen, sondern auch aus sozialhistorischen Entwicklungen: Durch ein „Kollektives Mehr“ (Beck 1986) vergrößert sich der Freizeitbereich und die Freizeitgestaltung[6] wird wichtiger. Ein Merkmal dieser Veränderungen ist eine „Erlebnisorientierung“ der modernen Gesellschaft. Trend- und Natursportarten bieten, so Egner (vgl. Egner 2000, 7) eine Möglichkeit diese Erlebnisorientierung umzusetzen, auch für Jugendliche[7].

Da ich im Rahmen einer Diplomarbeit nicht alle Extremsportarten untersuchen kann, entschied ich mich für das Felsklettern. Diese Sportart ist auch bei Jugendlichen als Freizeitbeschäftigung sehr beliebt[8]. Aus obigen Gründen geht es in dieser Arbeit nicht um das „Warum“, sondern vielmehr um das „Wie“ des Kletterns. Um Teile der Erfahrung, wie Empfindungen, Wahrnehmungen, Eindrücke und Bilder.

Das wichtigste Potential dieser Arbeit bilden die Eindrücke und Erinnerungen der Jugendlichen, die mit Hilfe des qualitativen Interviews erfasst werden sollen. Über das Aufnehmen der Einschätzungen der Jugendlichen sollen bestehende Theorien zusammengefügt, umgearbeitet und ergänzt werden. Dieses Chaos an Eindrücken und Bildern soll geordnet und durch theoretische Teile, die bestimmten Phänomenen nachspüren, ergänzt werden. So bestehen die Kapiteln des ersten Teiles der Arbeit aus je zwei Bausteinen: einerseits werden Bilder und Eindrücke der Kletterer aneinandergereiht und durch Interpretationen verbunden. Die darauffolgenden „Schlüsselbegriffe“ wollen andererseits bestimmten Phänomenen verstärkt nachspüren, Bedingungen aufzeigen und auf geschichtliche Entwicklungen hinweisen. Die etymologischen Bedeutung der Schlüsselbegriff bilden den Anfang der einzelnen Teilkapiteln. Dadurch sollen sowohl semiotische Inhalte als auch Unklarheiten bezüglich der Herkunft des Wortes ge- und erklärt werden, Verbindungen und erste Gedanken entstehen lassen sollen.

Im ersten Teil meiner Arbeit versuche ich den verschiedenen Bedeutungen des Wortes „Klettern“ nachzuspüren. So beginne ich im ersten Kapitel mit der Beschreibung des Zuges – diesem kurzen Moment zwischen Stabilität und Labilität, zwischen Spannung und Entspannung.  Präzise Wahrnehmung, die dem Zug vorausgeht, kann beim Klettern nur durch das Einswerden aller Sinne erreicht werden. Die Haut als sensorium commune (Serres 1993, 88) vereinigt in sich alle Sinne und erzeugt Intensität. Um die Qualität „Intensität“ erreichen zu können, ist es nötig, sich seinen körperlichen Grenzen zu nähern. „Am Limit“ ist daher der Titel des nächsten Kapitels. „Limit“ beschreibt in diesem Kontext nicht die Grenze zum Tod, eine Grenze hin zu Fremden, die beim Klettern an eigenen körperlichen Grenzen spürbar werden kann. Geprägt von diesen Grenzen des Fremden ist nicht nur die Wahrnehmung und Bewegung, sondern auch der Handlungsablauf „Klettern“. Seine Struktur ähnelt der des Spiels, die daraufhin beschrieben wird. Über die Struktur der Handlungsabfolge gelange ich zum „Lifestyle“ der Kletterer, in den ein kurzer Einblick gewährt werden soll. Lifestyle ist die Summe aller Qualitäten, die beim Klettern erlebt werden, und lässt eine eigene Szene-Welt „Klettern“ entstehen.

Im zweiten Teil der Arbeit geht es grundlegend um Klärungen, um Begriffe und Entwicklungen, die in vorhergehenden Kapiteln erwähnt wurden. Erstens soll noch einmal die Bewegung beim Klettern beschrieben werden, dieses Mal allerdings aus sportphysiologischer Sicht, um verständlich zu machen, was sich „rein körperlich“ beim Klettern abspielt. Ein weiteres Kapitel des zweiten Teils widmet sich der Entwicklung und Geschichte des Felskletterns. Darin soll seinen Wurzeln nachgespürt werden, um die gegenwärtige Sportart in einen historischen Kontext zu bringen, Veränderungen und Einstellungen verfolgen und Diskussionspunkte verstehen zu können. Resultierend aus der Entwicklung hat sich das Kletterns in verschiedene Disziplinen und Spielarten unterteilt, die Schwierigkeitsgrade haben sich nach oben hin ausgeweitet. Die Klärung dieser Begriffe erfolgt im dritten Kapitel. 

Im abschließenden Teil wird die methodische Vorgehensweise beschrieben, und es sind die Originalversionen der Interviews zu finden, aus denen immer wieder Ausschnitte im Verlauf der Arbeit zitiert werden.

Einige mag es verwundern und in anderen wird es unwillkürlich ein Gefühl des Widerstandes entstehen lassen, dass alle kletternden Personen, in meiner Arbeit einfach als „Kletterer“ oder „Kletternder“ bezeichnet werden, ohne geschlechtspezifische Differenzierung: diese Tatsache ist nicht begründet im Nicht-Wahrnehmen(-Wollen) der Kletterinnen, sondern in meinen persönlichen Erfahrungen, dass diese Sportart von Männern dominiert ist. Außerdem wurden geschlechtsspezifische Differenzen in den einzelnen Bereichen des Kletterns, die es ohne Zweifel gibt[9], meinerseits nicht berücksichtig. Als Kollektivum aller kletternden Personen verwende ich in dieser Arbeit deshalb die maskuline Form „der Kletterer“ bzw. „der Kletternde“. Die Bezeichnung „der Kletternde“ wird verwendet, um die aktive Sportausübung in bestimmten kontextuellen Zusammenhängen zu betonen. Im Unterschied dazu wird mit dem „Kletterer“ jemand bezeichnet, der der Szenewelt angehört und nicht nur auf seine Bewegung reduziert wird.

Beim Schreiben dieser Arbeit bin ich an die Grenzen meiner sprachlichen Möglichkeiten gestoßen. Deshalb ist es mir ein Anliegen, die Arbeit in Ruhe zu lesen und zu versuchen, die beschriebenen Bilder und Eindrücke auf sich wirken zu lassen und in ihnen die Faszinationen des „Kletterns“, sei es jetzt in der Bedeutung von einer Bewegung, einem Handlungsablauf oder einer Szenewelt, zu entdecken .

[1] Als flow-Erlebnis bezeichnet Csikszentmihaly das Aufgehen im Tun, das Verschmelzen von Handlung und Bewußtsein bei  autotelischen Tätigkeiten (von griechisch: auto = selbst und telos = Ziel), d.h. bei Tätigkeiten, die vom Ausübenden zwar eine formelle und beträchtliche Energieaufwendung verlangt, ihm aber wenig oder gar keine konventionellen Belohnungen bringt (vgl. Csikszentmihalyi 1987, S.30).  Elemente des flow-Erlebnisses sind das Vergessen der eigenen Identität, bedingt durch die Zentrierung der Aufmerksamkeit auf ein beschränktes StimulusfeldSelbstvergessenheit nicht im Sinne eines Verlustes des Kontaktes zur eigenen physischen Realität, sondern das Vergessen des Selbst-Konstruktes; ein weiteres Merkmal ist die Tatsache, dass die Aufgabe im Bereich der Leistungsfähigkeit des Ausführenden liegt, ihn also weder unter- noch überfordert; eines der wichtigsten Elemente des flow-Erlebnisses ist das Kontrollgefühl, das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben; eine weitere Eigenschaft des flow  besteht darin, das dabei gewöhnlich zusammenhängende und eindeutige Handlungsanforderungen auftreten und klare, ebenso eindeutige Rückmeldungen an die handelnde Person erfolgen, d.h. dass Ziele und Mitteln logische geordnet sind (vgl. ebd. S.61-74).
[2] Nach Cube ist es das Verwandeln der Unsicherheit in Sicherheit ist, was das Klettern so reizvoll macht. Wir wollen das Neue in Erfahrung bringen, das Unbekannte bekannt machen. Damit wird der Sinn der Neugier klar: Das Neue ist der Reiz, er veranlasst uns, das Unbekannte zu untersuchen, aus dem Unwissen Wissen zu machen, aus dem Unsicheren das Sichere; Das Neue könnte für uns ja wichtig sein, nützlich oder gefährlich. Damit ist klar: Der Sinn der Neugier ist Sicherheit. (Cube 1990, S.31). Sicherheit benötigt also zuerst einmal das Gefühl der Unsicherheit, das wiederum einen Neugierreiz produziert. Dieser Reiz wird durch das Befassen mit etwas Neuem befriedigt und nur durch ein erfolgreiches Lösen des Problems wächst Sicherheit. War die Problemlösung erfolgreich wird sie abgespeichert, wiederholt, automatisiert. Durch diesen Zuwachs an Sicherheit werden Zusammenhänge und Gesetze erkannt. Im Beruf, Studium, Schule mangelt es nach Cube an Reizen: es wird nichts Neues geboten, keine Reize, keine Anforderungen gestellt, deshalb  werden diese Neugierreize in der Freizeit gesucht.
[3] Bei Beck/ Beck-Gernsheim wird die vermehrte Tendenz zur Eingliederung in Gruppen oder Handlungsmustern in den letzten Jahren auf die Entwicklung zur Individualisierung in modernen Gesellschaften zurückgeführt. „Individualisierung“ meint einerseits die Auflösung vorgegebener sozialer Lebensformen und andererseits beinhaltet sie den Aufforderungscharakter, ein eigenes Leben zu führen. Anstelle der traditionellen Vorgaben, die auch mit einer beträchtlichen Handlungsbeschränkung und –ein-schränkung verbunden waren, treten nun institutionelle Vorgaben der modernen westlichen Gesellschaft um die man sich aktiv bemühen muß. (Beck/ Beck-Gernsheim 1994, S.12 f.). Individualisierung führt demnach zu einem Zwang Entscheidungen zu treffen, eine aktive Eigenleistung der Individuen wird nicht nur erlaubt, sondern gefordert  ( ebd. S.14) ohne Rückhalt auf traditionelle Strukturen wie Familie, etc. Das überforderte Individuum sucht nach Instanzen psychischer und sozialer Intervention, die ihm die Angst vor der Freiheit abnehmen und mindern sollen (zit. Weymann ebd. S.19). Das Individuum entscheidet sich für irgendwelche Mitgliedschaften, wählt zwischen Lebensstil-Angeboten und Teilzeit-Aktivitäten um sich so sein Lebensstil-Paket selbst zusammen zu basteln (vgl. Hitzeler/ Honer in Beck/ Beck-Gernsheim 1994, S.307) und eine erste Orientierung zu erlangen.
Opaschowski begründet die sich ständig steigernde Erlebnissuche und die damit verbundene Zunahme an sportlichen Freizeitaktivitäten in der Angst vor innerer Leere und Langeweile (vgl. Opaschowski 1983, S.81), die sich in den letzten dreißig Jahren in der Bundesrepublik Deutschland fast verdoppelt hat (ebd. S.56) Opaschowski gründete seine Untersuchung in der Tatsache, dass es ab den 60er Jahren zu Arbeitsverkürzungen gekommen ist und in der Folge immer mehr „Freizeit“ entstand. Und orientiert sich noch 1960 die Mehrheit der Deutschen an der traditionellen Berufsethik, bei der die Arbeit als des Leben Sinn galt und  Freizeit lediglich eine Funktion der Pause hatte, so ergab eine 182 durchgeführte Untersuchung, dass bei der Frage nach dem Sinn des Lebens, Freizeit die wichtigere Rolle spiele (vgl. ebd. S.29).  Aus obig genannten  Gründen haben sich in den 80er und 90er Jahren Lebenswerte und Lebensziele dahingehend verändert, dass die persönliche und soziale Selbstverwirklichung im freizeitkulturellen Lebensstil mehr Entfaltuns- und Erfüllungsmöglichkeiten als am Arbeitsplatz und in der beruflichen Leistung ( ebd. S.80) findet.  Mit dem Mehr an Freizeit ist aber auch die Folge der Langeweile verbunden.
[4]  Jugendliche haben, so meint Erikson, dazu eine Art „Moratorium“ als Experimentier- und Probehandeln zur Verfügung: Rollen können ergriffen und aufgegeben, Möglichkeiten der Identität durchgespielt werden.[…] nämlich daß sich viele Jugendliche für Identitäten entscheiden, die in krassem Widerspruch z.B. zu den Erwartungen des Elternhauses oder zu den gesellschaftlichen gebilligten Lebensformen stehen. […] Erikson nennt dies „negative Identität“ und sieht deren Kennzeichen darin, daß sie oftmals eine Verweigerung gegenüber rigidem elterlichen Erwartungsdruck darstellt. Statt Sicherheit bietet diese ‚negative Identität‘ ein Höchstmaß an Unsicherheit an  (vgl.Gudjons 1997, S.141).
[5] Ein Beispiel eines kritisierten Medienberichtes: Das Abenteuer der aus einer Höhle geretteten Schweizer lenkt die Aufmerksamkeit auf Hunderttausende, die jährlich in Europa und Amerika der Reiz der Unsicherheit in tiefe Höhlen, auf hohe Gipfel, in die Tiefsee oder auf entlegene Gletscher treibt. Die Übergänge zwischen sogenannter Erlebnispädagogik und Extremsport sind fließend, auch wenn Vertreter der Erlebnispädagogik gestern versuchten, angesichts des Höhlendramas die Gefahren herunterzuspielen. […] Einfach „megageil“ sei es, die eigenen Grenzen zu überwinden, schwärmt Extremkletterer Klaus B. Jeden Sonntag ein bisschen mehr. Dass es gefährlich ist, mache gerade den Reiz aus. Erst dadurch lerne man, den „inneren Schweinehund“ zu überwinden. Für den Augsburger Psychologen Hans Hartmann sind Extremsportarten moderne Initiationsriten der Jugend, aber auch „Vergewisserungsrituale verunsicherter Erwachsener“. […] Für viele weckt erst die Aussicht auf Gefahr die Neugier auf Fremdes. Für die Sehnsucht danach, wenigstens einmal die Selbstkontrolle zu verlieren, blicken immer mehr sogar dem Tod ins Auge. (Keller 2001)
[6] Freizeit ist, laut Opaschowski (1995), eine subjektive Wahrnehmung von besonderen Qualitäten der Erfahrung und des Erlebens
[7] Nach einer Erhebung zum Thema „Freizeitgestaltung Jugendlicher zwischen 14 und 24 Jahren (Fessel&GfK 1997), treiben 22% der Jugendlichen (sehr) häufig Sport, 30% öfters, 36% selten und nur 12% der Jugendlichen betreiben nie Sport. Auffällig ist allerdings der geschlechtsspezifische Unterschied hinsichtlich der Zahl der Sporttreibenden: 58% männliche Jugendliche und weniger als 10% betreiben ,laut  dieser Erhebung, Sport.
[8] Nach einer Erhebung des Fessel-Institutes interessieren sich je 33% der 14-24jährigen Österreicher für Mountainbiken und Rafting, 29% für Skitouren, 15% für Sportklettern und 13% für alpines Klettern. Die Zahl der Snowboard-Interessierten wurde nicht erhoben dürfte aber im Spitzenfeld liegen. (Unveröffentlichter Sub-Auftrag der Alpenvereinsjugend im Rahmen der Jugendstudie 1995, aus Töchterle, Luis: „Risk&Fun“, Krems 1999).
[9] Das Kuratorium für alpine Sicherheit untersuchte die Unfälle der letzten 16 Jahre. Laut diesen Untersuchungen liegt die Hauptrisikogruppe sowohl für traumatische Todfallraten, als auch für plötzliche Todfallraten, bei der Altersgruppe von 45-49 jährigen, und hier vor allem bei Männern. (Scheiring 1995). Vergleicht man die Zahlen der Unfallbeteiligten beim Felsklettern hinsichtlich ihres Geschlechts und unter Berücksichtigung der Anzahl der Sportausübenden, so sind im Jahr 1995 nur 40% weibliche gegenüber 60% männliche Felskletter(er)Innen verunfallt, und bei 78% derjenigen, die beim Klettern tödlich verunfallten, waren männlich (Burtscher 1996, 37f.). Beide Untersuchungen lassen vermuten, dass Frauen eine andere Risikobereitschaft vorweisen, als Männer.