Wahrheit oder Pflicht, Beitrag in "Berge: Alpenvereinsjahrbuch 2019" I alpinonline

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Das Social-Media-Verhalten der Bergsteiger und die damit verbundenen Dilemmata.

Soziale Medien wie Facebook oder Instagram sind Realität – das lässt sich nicht mehr leugnen. Ebenso wenig, dass sie nicht (mehr) nur von Jugendlichen genutzt werden. 77 Prozent der User sind zwischen 18 und 44 Jahre alt[1], womit sich die Hauptusergruppe von sozialen Medien mit der größten Gruppe von Bergsportlern deckt. Allein zwei Millionen User sind in Deutschland und Österreich auf Facebook mit dem Interessens-Merkmal „Wandern“ aktiv. Postings, also Beiträge über Berge und Bergsteigen haben längst Einzug in diese neue Kommunikationsform gehalten –  haben mit unübersehbaren Konsequenzen.

„Im Grunde ist Facebook mit seiner affirmativen Like(able)-Kultur eine große Party, auf der sich alle wohlfühlen.“ 

Simanowski, 2016, S. 162

Das Thema Bergsteigen eignet sich bestens für soziale Medien – es gleicht einem großen Fest von Gleichgesinnten (Community) und einem Spiel, bei dem man Erlebnisse der Freizeit, die Liebe zu den Bergen (mit-)teilt  und nach Gemeinschaft sucht. Wichtig ist, dass jeder schaut, dass er sich auf dieser Party auch wohlfühlt. Denn genauso wie auf einer realen Party wirkt man mit seinen Handlungen und ruft Reaktionen hervor. Doch anders als im realen Raum erreicht man auf der virtuellen Party schneller und mehr Personen, die (re-)agieren und bewerten. 

Noch nie konnte jeder, immer und überall, sofort mit so einer großen Menge an Personen kommunizieren wie mittels Social Media. Wie alle Innovationen wird auch diese von Skepsis und Kritik begleitet – zum groß Teil mit den gleichen Argumenten wie etwa bei der Erfindung des Buchdrucks oder anderen Neuerungen im Bereich der Kommunikation.

Der Buchdruck war für die Gesellschaft von großem Nutzen. Ähnliche Vorteile hat auch die Kommunikation über Soziale Medien:

  • Information lässt sich irrwitzig schnell verbreiten
  • Information lässt sich barrierefrei einer Weltöffentlichkeit zugänglich machen
  • Information ist „hochgradig kombinations- und reaktionsbereit“[2] und kann verknüpft werden 
  • und dies kann „kann äußerst positive Folgen haben, lehrreich sein“[3]

Dies voranzustellen ist wichtig, wenn im Folgenden Dilemmata unseres Social-Media-Verhaltens thematisiert werden. In Summe haben Soziale Medien im Bereich des Bergsteigens etwas wunderbares vollbracht – noch nie war die Akzeptanz für Bergsportarten so hoch, noch nie gab es so viele wunderschöne Bilder und Berichte dazu und noch nie so viele Interessenten. Soziale Medien mobiliseren, und das ist gut so.

Dilemmata

Dilemma 1: Neue Rolle der User und Verantwortung des Einzelnen

Bei Äußerungen und Nachrichten in den sozialen Medien ist es nicht mehr eindeutig, ob es sich um persönliche Kommunikation oder mediale Berichterstattung handelt. Auch wenn der User etwas privat postet, kann sein Beitrag durch die Dynamik und Möglichkeiten der sozialen Medien und die Reichweite, die ein Posting haben kann, schnell einen öffentlichen Informations- und Nachrichtencharakter erhalten. Das eigene Posting kann aus dem ursprünglichen Kontext (meint Raum, Zeit, Publikum, Öffentlichkeit, Kultur und Modus) herausgerissen, geteilt und mit neuem Text angeteasert werden, wodurch es häufig eine andere Bedeutung erhält. „Das wollt ich ja gar nicht!“ oder „So hab ich das nicht gemeint“, ist dann oft die Reaktion des ursprünglichen Autors.

„Das digitale Zeitalter ist auch das Zeitalter der permanenten Kontextverletzung, der fortwährenden Verwicklungen, Missverständnisse und Blamagen.“[4])

Doch diese Form der Verbreitung von Nachrichten, aufgrund der Vernetzung von Personen, ist die Basis der Sozialen Medien – das sind die Spielregeln. Und dieser Möglichkeiten der Verbreitung muss man sich bewusst sein.

Dilemma 2: Der fehlende Nachrichtencharakter von Postings

„Information ist schnell, Wahrheit braucht Zeit.“ Dieses Zitat des Netzphilosophen Peter Glaser beschreibt ein Dilemma der digitalen Informationsverbreitung. Ein Posting kann als private Botschaft erstellt werden, durch Verbreitung jedoch schnell zur (informativen) Nachrichtwerden.

In professionellen Medien gibt es einen klaren Ablauf, wie Nachrichten erstellt werden: angefangen von der Recherche und Prüfung der Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben, über die Auswahl der für relevant befundenen Informationen, bis hin zu Inhalt und Sprache. All dies beansprucht Zeit.

In den sozialen Medien ist es anders: Jeder kann immer, überall und sofort posten. Motivation und Ziel des Autors sind meist nicht transparent. Ebenso fehlen eine professionelle Kontrolle, ein Korrektiv oder ein „Gatekeeper“, der darüber entscheidet, was erscheint und was nicht. Falsche Berichterstattung und Fake News gehören dazu. 

Hinzu kommt, dass Medienrealität an sich nur einen Teil der Realität zeigen kann. Viel größer als dieser Ausschnitt ist jener Teil der Realität, der nicht gezeigt wird – ob unbewusst oder absichtlich. Durch die Struktur von Social-Media-Posts – der starken Rolle des Bildes und den sehr reduzierten Texten – ist die dargestellte Realität nochmals reduzierter und die nicht dargestellte Realität umso größer. Die Möglichkeiten einer Information sind begrenzt.

Posting 1 (Nordkette1) zeigt meine Skispitzen über einer einsamen, unbefahrenen Rinne, hoch über Innsbruck. Es lässt vermuten, dass ich starte und in diesen unverspurten Hang einfahren werde.

Die Realität wird in Posting 2 (Nordkette 2) deutlich: eine 180-Grad-Wendung und ich lande in der stark abgefahrenen und sicher nicht einsamen Karrinne, in einem Skigebiet. 

Dilemma 3: Fehlende Transparenz der Motive und der Absicht

Egal welches Motiv hinter einem Post steht, es geht immer um ein ICH – privat oder kommerziell. Man kann dieses Phänomen damit erklären, dass in einer Welt der Kollektive soziale Netzwerke die Möglichkeit bieten, als einzelner Mensch aktiv zu sein und wahrgenommen zu werden.

Und meist geht es um ein MEHR: mehr Likes und mehr Aufmerksamkeit zu bekommen – und beides erhält man nur durch sogenannten „Highlight“-Content, der sich von allen anderen Posts abhebt, der mobilisiert. Im Winter 2016/17 waren das beispielsweise Posts über das Mitschwimmen in Lawinen oder im Sommer 2017 Nacktfotos in der Natur (#nakedinfuture).

Was sind die gängigsten Motive fürs Posten?

  • Selbstinszenierung &Performance: Der Autor will mit dem Post etwas über sich erzählen. Der Berg ist hier nur eine nette Hintergrundkulisse.
  • Status Seeker und Status-Visualisierung: Mit vielen Likes und Kommentaren wird der Selbstwert des Autors sowie sein Bergerlebnis oder seine Leistung bestätigt und abgesichert. Das Erlebnis wird vergleichbar.
  • Körperkult #fitspiration: Der Berg als Fitnessraum, der Körper als Objekt. Beispiel ist das Phänomen #nakedinature – 47.000 Posts, auf denen sich Menschen nackt in der Natur präsentieren. 
  • Dabei sein! Bergsteigen ist eine Lebenswelt, ein Gefühl, hier will man dazugehören. „Online zu sein ist, als ob man Teil der großartigsten Cocktailparty wäre, die jemals stattfände und nie zu Ende ginge.“ (Brooks, 2015 in Altmeyer, 2016, S. 18) Jeder kann dazugehören, denn eine Eintrittskarte oder Aufnahmeprüfung gibt es nicht.
  • Informationen & Inspirationen: Das betrifft vor allem Institutionen, Vereine und Medien, die Informationen rund um das Thema Bergsteigen liefern. Verlässliche Informationen werden mittlerweile auch von Usern erkannt und angenommen. 
  • Geld: Hinter dem „Berg“ oder der Community steckt ein Werbe- und Marktpotenzial für Marken. Die neuen Werbeformen sind für den User nicht immer ersichtlich – trotz Kennzeichnungspflicht. So ist das Werbeformat der Influencer, die „authentisch“ Produkte an Zielpublikum bringen sollen, für den User als solches oft nicht wahrnehmbar.

Warum wird geliked?

In den sozialen Medien verschwimmt die Grenze zwischen Leser und Autor. Da also der ursprüngliche Leser schnell selbst zum Autor werden kann, treffen alle oben genannten Motive für das Posten von Beiträgen auch auf das Liken von Beiträgen zu. Hinzu kommen weitere Beweggründe:

  • Dabei sein, ohne dabei zu sein! Durch das Liken bzw. die Anschlusskommunikation fügt man sich einer Gruppe hinzu. Oft werden Posts nur deswegen geliked, weil viele liken. 
  • Unter dem Deckmatenl der Gruppe „anonym“ be-/verurteilen

In der digitalen Gruppe fühlt man sich sicher, anonymisiert, traut man sich, sich zu exponieren, denn es gibt ja noch viele andere, die gleich denken. Bekommt man eine negative Antwort, bezieht sich diese auf das neue digitale, kollektive WIR und nicht auf das analoge ICH. Und so finden Ver- und Beurteilungen über Verunfallte, Verschüttete, Beteiligte schnell statt – man muss es ja keinem Angehörigen ins Gesicht sagen.

„The medium is the message – and the user is its content“

Marschall McLuha

Dieser oft zitierte Satz des  Medientheoretikers Marschall McLuhan (1911–1989) beschreibt das Phänomen, dass sichder User durch das Liken und Posten selbst zum Inhalt der Nachrichten macht und unterstreicht die Bedeutung des technischen Tools des Nachrichtentransports. 

Dilemma 4: Die neue Rolle des Publikums

Wie wir gesehen haben, wird der Leser zum Ersteller von Nachrichten und beeinflusst deren Reichweiten. Damit kommt eine neue Ebene ins Spiel: das Publikum. Noch nie waren seine Macht und seine Verantwortung so groß wie in den sozialen Medien. 

Hatte im klassischen Journalismus das Publikum die Rolle des „Zuhörers“, kann es jetzt schnell auf Beiträge reagieren, diese liken oder kommentieren und über die Teil-Funktion selbst neue erstellen. Selbst das reine Betrachten erhöht schon die Reichweite. Somit wird der Leser zum „Producer“ und das Publikum erhält eine neue Macht und Verantwortung, die ihm als solche nicht bewusst ist.

„Das Publikum ist aus der Sicht des dialogischen Journalismus nicht mehr passiv, sondern Teilnehmer eines großen, niemals abgeschlossenen Gesprächs auf der Suche nach Wahrheit, Relevanz und Sinn.“[5]

Im Winter 2016/17 gab es einige Posts, die Lawinen sehr verharmlost dargestellt haben. Doch nicht nur der Autor hat sie verharmlost, sondern auch das Publikum: durch Kommentare wie „Whoohoo – ich war auch dabei!“, durch Likes oder auch durch das bloße Betrachten. Fast 10 Millionen Aufrufe hatte so das oft zitierte Video von Tom Oye über das Mitschwimmen in einer Lawine. Von der tödlichen Gefahr der Lawine erfährt man hier allerdings nichts (mehr).

Dilemma 5: Die neue Form der Informationsselektion

Nehmen wir mal das Beispiel Wandern: Laut einer Statistik[6] von 2017 gehen 6,72 Millionen Deutsche in ihrer Freizeit Wandern, 2 Millionen sind auf Facebook mit dem Interessens-Merkmal „Wandern“ (AT/D) aktiv und 27 Millionen Beiträge gibt es auf Instagram mit dem Hashtag #hiking. 

In dieser großen Community ist es nicht mehr möglich, jeden zu kennen, wir agieren anonym und kommunizieren in einer neuartigen Weise. Gab es oder gibt es in der klassischen Face-to-face-Kommunikation einen Sender und einen Empfänger, die interaktiv und durch Feedback-Botschaften nicht nur selektieren, sondern auch validieren und auf Richtigkeit prüfen, ist das nun nicht mehr möglich. Wir selektieren die Nachrichten nicht – Facebook selektiert die Nachrichten über einen Ausspielalgorithmus und entscheidet, was uns aus der Menge an Daten angezeigt wird. Ein Verifizieren (oder auch Falsifizieren) der Botschaften ist nahezu nicht mehr möglich. Aber genau dies wäre eine wesentliche Aufgabe des kommunikativen Prozesses.

Die Folge sind im Extremfall Fake News, die im Netz herumschwirren. In abgeschwächter Form gehören dazu im alpinen Context auchInformationen über Touren und Verhältnisse, die nicht eingeordnet werden können, oder Botschaften mit „gefährlichem Halbwissen“. Man kennt den Autor meist nicht (mehr), daher sollte man all diese digitalen Informationen mit Vorsicht genießen.

Diese Verantwortung trifft auch auf den Bereich jeglicher Form digitaler Tourenbeschreibungen zu. So sieht man z. B. auf einem Foto (Piz Buin1): ich am Piz Buin, schönes Wetter, keine Leute, easy, entspannt. Die Realität bildet das nicht gepostete, ergänzende Foto (Piz Buin 2) ab: Hunderte Leute waren an diesem Tag unterwegs, die nicht immer selbstständig und aus eigener Kraft den Gipfel erreichten, es herrschte Chaos und es war bitterkalt. Freut sich der „Experte“ vielleicht über mein erstes Foto, weil er doch selbst schon mal am Gipfel war und die Verhältnisse kennt, vermittle ich dem „Ahnungslosen“ ein falsches, verharmlosendes Bild dieser Skihochtour.

Genauso wenig wie die Social Friends reale, sozial agierende Freunde sind, genauso wenig deckt sich das Bild der digitalen  „Berg-Community“ mit der analogen. „Noch nie hatte ich so viele Freunde wie jetzt, und noch nie bin ich so oft alleine auf Tour gegangen!“, bemerkte ein Teilnehmer der DAV-Werkstatt 2017 treffend.

Dilemma 6: Die Inhomogenität der Community

 „Wir Bergsteiger“ begreifen uns als eine Lebenswelt, als eine Gruppe – jeder aus seiner Perspektive, sei es jetzt der Experte oder Anfänger. Digital sind wir eine inhomogene Erlebniswelt und wir verstehen und sehen nicht, dass und warum wir uns nicht verstehen – und das wortwörtlich. Denn wir Bergsteiger sprechen nicht alle dieselbe Sprache.

Auch die Menge der Wanderer ist nicht homogen. Abgesehen von subjektiven Beobachtungen belegt dies Rainer Brämer in einer Studie[7], die den hohen Bevölkerungsanteil (fast 70 % in Deutschland) an Wanderern insofern relativiert, da nur ein geringer Teil davon regelmäßig wandern und zudem der Anteil der regelmäßigen Wanderer in den letzten Jahren gesunken sei. Nur die Anzahl der Gelegenheitswanderer habe zugenommen. Trotzdem wird oft von einem Wanderboom und verallgemeinernd von „dem Wanderer“ gesprochen. Man kann also bei einer Gruppe nicht von einer einheitlichen Expertise oder demselben „Mindset“ ausgehen:  Wissensstand, Hintergrundinformationen, das Verständnis des Kontextes oder Eigenkönnen und Erfahrung unterscheiden sich oft signifikant. So kann beispielsweise ein Post über erhebliche Lawinengefahr bei den einen zurückhaltende Tourenplanung befördern, für die anderen ist es das Symbol für guten Powder.

„In den öffentlichen Welten des digitalen Zeitalters ist die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen in einem nie dagewesenen Maße sichtbar.“[8]

Eine Bergwacht hat es auf den Punkt gebracht, indem sie den für einige User anscheinend zu komplexen Lawinenlagebericht nach dem ersten Lawinenunfall der Saison 2017 verständlich gepostet hat: „Achtung – sobald es schneit – gibt es auch Lawinen!!!“

DieInhomogenität der Bergsteiger spiegelt sich natürlich nicht nur im Netz, sondern auch ganz analog im Gelände wider. Allerdings kann man sie durch die sozialen Medien auf einer Meta-Ebene beobachten, nämlich dann, wenn Diskussionen entbrennen. Das passierte z. B. im Jänner 2018, als ein Skitourengeher sich in einer einschlägigen Facebook-Gruppe darüber entrüstete, dass es Wintersportler gibt, die keine Spitzkehre können und sich trotzdem auf eine Modeskitour (!) im Gelände begeben. Schnell entfachte die Diskussion über gute und schlechte Bergsteiger und die Frage, ob Pistentourengeher oder Anfänger denn diese Tour überhaupt in Angriff nehmen dürften.

Dilemma 7: Fehlende Informationen

Die Community der Online-Bergsteiger besteht unter anderem auch aus einer großen Gruppe „Ahnungsloser“: Menschen, die weder über Ausbildung noch Erfahrung im Bergsteigen verfügen und so z. B. nicht wissen, dass es Lawinenwarndienste und Lawinenwarnstufen gibt. Sie wissen nicht, dass die Besteigung des Großglockners keine Wanderung ist, wie lange Schnee auf Dreitausendern liegt und vieles mehr. .  

Hierzu ein Beispiel: Im Februar 2018 hat ein User in eine Facebook-Gruppe zu Klettersteigen die Frage nach den aktuellen Verhältnissen in einem bestimmten Klettersteig im Winter gestellt. Sofort hat die verantwortungsvolle Community eingegriffen und ihn auf die ihm anscheinend fehlenden Informationen hingewiesen: alpine Gefahren, Lawinenwarndienst, Wetter, verkürzte Tageszeiten etc. Ebenso wurde seine Chronik gescreent und daraus gefolgert, dass ihm Erfahrung und Wissen für ein solches Unternehmen fehlt. In diesem Fall hat das Publikum seine neue Verantwortung wahrgenommen und den User über Dinge informiert, die er gar nicht kannte.

Informationen, die nicht ausreichend transparent gemacht werden (können), sind jene über Entscheidungsprozesse und Dynamiken:  Infos über die Gruppe, Wetter, Sicht oder die Lawinensituation und wie anhand dieser Parameter diese Tour geplant wurde. Weiters fehlen Informationen über den Autor: über seine Vorbereitung, seine Vorkenntnisse und Erfahrung, seine Selbsteinschätzung und Motivation, diese Tour zu gehen: über sein „Mindset“also.

Nicht die vermittelte Information ist häufig das Problem, sondern die Information, die nicht vermittelt wird.

Ein Beispiel: Ich habe in einer Facebook-Gruppe einen Post einer unverspurten Landschaft gestellt (Maurerspitze 1). Doch nicht nur die Information über die Location fehlt bei meinem Post, sondern auch jegliche Informationen über mich und den Kontext der Tour. 

Dilemma 8: Eine neue Bewertungskultur

War die Tour am Wochenende gut? – Ich schau mal auf die Likes. „Die Tatsache, dass das Bewertungsspiel der Daten nicht einfach etwas ist, was man hinzunehmen hat, sondern beeinflussen kann, beinhaltet ja geradezu die Handlungsaufforderung, dies auch zu tun.“[9] (Mau, 2017, S. 264)

Die neue Möglichkeit, alles zu bewerten, hat auch im Bergsteigen Einzug gehalten. Genauso wie den Kaspressknödel auf der Hütte oder das Hotelzimmer bewerten wir unsere Erlebnisse.  „Noch nie war das Vergleichen so einfach wie heute.“[10]

Fasziniert vom Ranking-Denken, orientieren wir uns an allem, was man bewerten kann und bewertet ist, und verwechseln Quantität mit Qualität und Validität. Für Höhenmeter, Geschwindigkeit und Kalorienverbrauch gibt es vergleichbare Werte, nicht aber für die Qualität von Freunden, der Gruppe, einem Gefühl.. 

Das führt dazu, dass wir permanent die reale Erfahrung mit dem subjektiven und aus der zeitlichen Distanz betrachteten Erlebnis vermischen. War es ein Online-Erlebnis oder eine reale Erfahrung? 

„Erfahrung ist authentisch und folgenschwer, denn sie reicht als aus der Vergangenheit stammende Weisheit in die Zukunft hinein; das Erlebnis hingegen ist oberflächlich und folgenlos, denn es bleibt als intensivierte Wahrnehmung auf den aktuellen Moment reduziert.“[11]

Simanowski, 2016, S. 66

Wie wirkt sich unser Social-Media-Verhalten aufs Bergsteigen aus?

Die Darstellung der Berge und ihrer Risiken.

Der Berg wird in den sozialen Medien zum harmlosen Fitnesscenter, dort oben scheint immer die Sonne, Bergsteigen kann jeder machen,  Gefahren und Risiken werden selten und wenn dann verharmlost und unvollständig dargestellt.  „Das Medium radikalisiert die Botschaft.“ (N. Luhmann)

Kriterien der Tourenauswahl. 

Gehen wir die Tour noch, weil wir aus unserem Inneren dazu motiviert sind, oder weil wir diese Tour auf Facebook gesehen haben oder ein ähnlicher Post viele Reaktionen bekommen hat? Die Grenzen zwischen intrinsischen und extrinsischen Motiven verschwimmen. Die Menge an Tourenpostings kann dem Erfahrenen Inspiration und die Basis für seine weitere konkrete Tourenplanung liefern. Die Gefahr besteht allerdings, dass ein Posting bereits die Tourenplanung ersetzt. Gibt man sich einmal der Dynamik auf Social Media hin, ist es schwer, sich dem wohligen Gefühl der Likes wieder zu entziehen.

„Sozial disqualifiziert fühlt sich, wer keine attraktiven Erlebnisse zu berichten hat. Was zuvor unbemerkt blieb, produziert nun eine auffällige Leerstelle.“[12]

Posten am Berg verändert das Verhalten und Erlebnis. 

Das Posten an sich verändert unser Verhalten. Das, was auf Facebook gepostet ist, ist nur die halbe Wahrheit. Wie und wann wir es posten, das ist die zweite Hälfte, das zeigt das Beispiel vom Piz Buin (Bild vorherige Seite). 

Ein Beispiel:  

„Das Problem ist nicht das, was wir auf dem Smartphone lesen, sondern dass wir auf dem Smartphone lesen.“ [13]

Das Posten als neues Berg-Unfallmuster. 

Das norwegische Projekt #besafie hat sich die Unfallvermeidung aus Selfie-Gier zum Ziel gemacht – Unfälle zu vermeiden, die aufgrund waghalsiger Unternehmungen passieren, damit man das beste Selfie bekommt.

Hintergrund ist die zunehmende Beliebtheit der beiden Felsen Preikestolen und Trolltunga, wo eine australische Studentin 2015 zu Tode stürzte. Die Zahl der Touristen, die zum Preikestolen wandern, ist von 60.000 im Jahr 2009 auf 300.000 im Jahr 2017 gestiegen, während die Besucherzahlen zum Trolltunga zwischen 2011 und 2016 von 1000 auf 100.000 angewachsen sind. Daher initiierten norwegische Touristiker von Visit Norway die #besafie-Kampagnen, mit dem Ziel, Touristen zu helfen, zuerst an ihre Sicherheit zu denken. 

„Der kommentierende Sofortismus“ [14]

Ein Phänomen, das gerade in der Lebenswelt Bergsteigen und hier besonders bei der Darstellung von Unfällen auftritt, sei noch erwähnt: die (Un)Art des sofortigen Kommentierens und Beurteilens, vor allem bei Unfällen. Jeder „Experte“ weiß noch vor Gutachtern oder den offiziellen Polizeiberichten, was denn die Ursache dafür sei und wer der Schuldige ist. Dieses Phänomen tritt im gesamten Netz auf: 

„Man interpretiert unmittelbar und viel zu schnell. Die vermeindliche noch vorhandene Unübersichtlichkeit der Lage wird durch scharfe, mit maximalen Wahrheitsfuror formulierte Ad-hoc-Kommentare überspielt – ganz so, als ließe sich im Akt des Kommentierens und des Instant-Interpretierens wieder Sicherheit gewinnen, als sei das noch diffuse, ungeklärte Ereignis die entscheidende Gelegenheit, um ohnehin schon vorhandene Deutungsmuster, ungetrübt von präziser Kenntnis, zu stabilisieren.“ [15]

Die neue Rolle des Mobilgerätes

Wir verlassen uns auf unser Smartphone (oder andere digitale Geräte). Das Handy ist fixer Bestandteil auf unserer Tour. Wir speichern hier Tracks, die Wetterprognose, haben unseren Standort geortet und im Notfall brauchen wir es für das Absetzen eines Notrufs. Und wir wissen ganz genau, dass jedes Foto, jedes Posting oder einfach online zu sein, die Akkuleistung unseres Handys reduziert. Anstatt auf Hersteller und Updates zu schimpfen, wäre auch hier Eigenverantwortung bei der Handynutzung gefragt. Vielleicht verzichtet man besser einmal auf eine Live-Story, um den Akku für den Notfall zu schonen.

Dasselbe gilt für die Tourenplanung: Das Handy bietet eine trügerische Sicherheit. Man sollte in jedem Fall auch ohne Handy (oder auch GPS) in der Lage sein, seinen Standort orten zu können oder eine analoge Karte zu lesen. 

Die unersätzliche Qualität der Face-to-face Kommunikation 

Die Qualität der persönlichen, interaktiven, direkten Kommunikation muss uns wieder bewusst werden. Sie ist unerlässlich, um zu lernen und Erfahrungen zu sammeln – oder glauben Sie, dass ein Kleinkind gehen lernt, indem es sich Youtube-Videos anschaut? Das direkte menschliche Miteinander bietet zudem Halt, Schutz, Orientierung und Hilfe. Zeiteffizienter ist es sicher, Emails oder SMS zu schreiben. Face-to-face Kommunikation ist anstrengend! Wir brauchen sie aber, gerade beim Bergsteigen. Angefangen bei der Tourenplanung, wo man im persönlichen Gespräch nachfragen kann, ob jemand die Schlüssel- und Gefahrenstellen der Tour kennt, ob meine Weg-Zeit-Berechnung stimmen kann, ob die geplante Tour für mich passt. Ebenso auf oder nach der Tour: Situationen zu diskutieren trägt entscheidend zu besseren Entscheidungen und zum Lernen bei. Das ist anstrengend und mag manchmal unangenehm sein, aber wir machen es uns zu einfach, zeitsparend und anonym, auf Facebook einen negativen Kommentar zu schreiben oder eine Tour mit nur einem von fünf Sternchen zu bewerten. 

Was ist nun aber das Fazit?

Noch nie war die Akzeptanz für Bergsportarten so hoch, noch nie gab es so viele wunderschöne Bilder und Berichte dazu und noch nie so viele Interessenten. Soziale Medien mobiliseren, und das ist gut so. Die Die Präsenz von bergaffinen Gruppen in den sozialen Medien und ihr Posting-Verhalten führen zu neuen Gefahrenquellen und verändertem Verhalten beim Bergsteigen. Noch ist unklar, wer damit wie umgehen soll. Es stellen sich viele Fragen:

  • Wer kann/muss sich für diese neue Bergsteiger-Community verantwortlich fühlen? 
  • Müssen Institutionen wie die alpinen Vereine ihre fachlichen Botschaften für Bergsteiger mit minimalem Wissen „übersetzen“? 
  • Braucht es eigene Projekte wie #besafie, die sich dieser Entwicklung annehmen? 
  • Brauchen wir Kommunikations- oder medienethische Regeln? 

Bernhard Pörksen liefert in seinem bereits mehrfach zitiertem Buch „Die große Gereiztheit“ Vorschläge, die eine allgemeine Kommunikationsethik vorstellbar machen. Demnach wären die wichtigsten Handlungsmaximen:

  • Wahrheitsorientierung: „Es bedeutet, mit der Möglichkeit der Täuschung und der systematischen Desinformation zu rechnen, im Falle von Kontroversen stets die Gegenseite anzuhören, die Wahrnehmungen unterschiedlicher Beobachter eines Geschehens abzugleichen ….“[16]
  • Skepsis: Nur mit einer gewissen Skepsis gegenüber den Botschaften als auch dem Ausspielmodus der großen Portale (Algorithmen) lässt sich oben genannter Prozess der Wahrheitsfindung starten.
  • Verständigungs- und Diskursorientierung: Was face to face funktioniert, kann auch digital gestartet werden – wenn man dazu bereit ist.
  • Kritik und Kontrolle ermöglichen und zulassen
  • Komplexität reduzieren – und gleichzeitig die verzerrende Vereinfachung vermeiden. 

Das Wichtigste aber ist, die Dynamiken der Sozialen Medien, die mein innerstes Ich betreffen, mein wohliges Gefühl der Fremdbestätigung aufzubrechen, denn 

„man braucht die Gewissheit, nicht fortwährend beobachtet zu werden, um ein Leben in Autonomie und Freizeit zu führen.“[17]

 

Literatur

  • Krogerus, M., & Tschäppeler, R. (2017). Das Kommunikationsbuch. Kein & Aber.
  • Mau, S. (2017). Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Berlin: Suhrkamp.
  • Pörksen, B. (2018). Die große Gereiztheit. München: Carl Hanser Verlag.
  • Simanowski, R. (2016). Facebook-Gesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz.
  • Stadler, F. (2016). Kultur der Digitalität. Berlin: edition suhrkamp.

[1] Quelle: Statista – Das Statistik Portal, 2018, abgerufen am 22. 2. 2018.

[2] Pörksen, Bernhard: Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung, München 2018, S. 46.

[3] Ebda.

[4] Ebda, S. 138.

[5] Pörksen, Bernhard: Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung, München 2018, S. 210.

[6] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/171162/umfrage/haeufigkeit-von-wandern-in-der-freizeit/abgerufen am 26. 2. 2018

[7] Brämer, Rainer:. Es gibt keinen neuen Wanderboom, www.wanderforschung.de/files/kein-neuer-wanderboom-2017_1703141946.pdf abgerufen am 26. 2. 2018

[8] Pörksen: Die große Gereiztheit, S. 82.

[9] Mau, Steffen: Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen, Berlin 2017, S. 264.

[10] Ebda, S. 65.

[11] Simanowski, Roberto: Facebook-Gesellschaft. Berlin, 2016, S. 66.

[12] Simanowski: Facebook-Gesellschaft, S. 32.

[13] Krogerus, Mikael & Tschäppeler, Roman: Das Kommunikationsbuch. Wie man sich besser verständigt, Zürich 2017, S. 59.

[14] Pörksen: Die große Gereiztheit, S. 52)

[15] Ebda S. 52.

[16]  Pörksen S. 190 ff.

[17] Pörksen, S. 112

Beitrag in „Berg 2019: Alpenvereinsjahrbuch“ von Deutscher Alpenverein (Herausgeber), Österreichischer Alpenverein (Herausgeber), Alpenverein Südtirol (Herausgeber), Anette Köhler (Mitwirkende)

Lektorat: Teresa Profanter
Titelbild: argonaut.pro