Gastkommentar im Mitgliedermagazin des DAV Augsburg
Der Bergsommer 2020 war anders. Nach dem Covid-bedingten Lockdown im Frühjahr kam es zu einem regelrechten Ansturm auf die heimische Bergwelt. Eine erfreuliche Entwicklung sollte man meinen – es ist ja auf gleich mehreren Ebenen begrüßenswert, wenn es die Menschen verstärkt in die Natur zieht.
Doch gleichzeitig gingen die medialen Wogen hoch: Es gab eine Reihe von Berichten über Schwarzcamper an Seen und in Naturschutzgebieten, Influencer an alpinen Hotspots und Massen von Wanderern, die sich gegenseitig die Aussicht verstellten. Schnell begab man sich dann auch mit erhobenem Zeigefinger auf die Suche nach den Verantwortlichen für diese Entwicklung – und glaubte sie alsbald in den sozialen Medien, vor allem den Instagram- und Facebook-Usern, gefunden zu haben. Ausgeblendet wurde hingegen die Tatsache, dass Hüttenwirten sowie Besitzern und Betreibern alpiner Infrastrukturen kaum etwas Besseres hätte passieren können als dieser Ansturm auf die heimische Bergwelt und ihre Infrastruktur. Doch wer hat nun Schuld? Ist es überhaupt legitim, in dieser Situation einer Gruppe von Menschen eine solche zuzuschreiben? In diesem Beitrag möchte ich mich diesen Fragen von verschiedenen Seiten nähern – nicht, um finale Antworten zu geben, sondern ein paar Anregungen zum Nachdenken.
Die sozialen Medien
In vielen Diskussionen wurden sie als Erste genannt, wenn es darum ging, den Ansturm auf die Berge und die Natur im vergangenen Sommer zu erklären: soziale Medien und ihre User. Und tatsächlich ist es so, dass über Postings auf diesen Plattformen für viele Nutzer imposante Gipfel, idyllische Bergseen oder andere besondere Orte in der Natur in den Vordergrund gerückt wurden. Klickt man bei so einem Posting dann auf den „Gefällt mir“-Button oder teilt das Bild, wimmelt es in der eigenen Timeline bald von ähnlichen Beiträgen. Das liegt daran, dass soziale Medien über eigene intransparente Algorithmen aus unserem Nutzerverhalten eine für uns passende Bubble kreieren; eine Blase, die gefüllt ist mit ähnlichen Beiträgen wie jenen, die bereits auf unsere Zustimmung gestoßen sind. Das Schema dahinter lautet: Zeige dem User mehr von dem Inhalt an, der ihm schon einmal gefallen hat.
Bei der Nutzung von sozialen Medien müssen wir daher immer im Hinterkopf behalten, dass die Plattformbetreiber nicht am Wohl der Menschheit, sondern an unseren Daten interessiert sind. Diese werden im Hintergrund abgespeichert und für Werbung verkauft. Ob man soziale Medien verwendet, bleibt im eigenen Ermessen. Vor Augen halten sollte man sich, dass sie kein tatsächliches Abbild der Realität bieten, sondern in einer verzerrten Form auf unsere Interessen reagieren und uns nicht kuratierte Inhalte liefern.
Der Content-Ersteller
Die Inhalte, die in sozialen Medien zu finden sind, müssen von irgendjemandem generiert werden. Häufig werden diese Content-Ersteller als Hauptverantwortliche ausgemacht, die mit ihren Hochglanz-Postings die Massen in die Berge locken. Influencer leben teilweise davon, dass ihre Beiträge angeklickt und geteilt werden und sie eine große Zahl an Abonnenten haben. Sie als alleinige Verantwortliche für den Run auf die Berge auszumachen, greift aber zu kurz. Denn natürlich tragen wir alle einen Teil dazu bei – jeder von uns, der ein Foto vom schönen Sonnenaufgang, vom türkisblauen Bergsee oder dem vermeintlich einsamen Gipfel postet.
Im Unterschied zu Journalisten, die professionell Inhalt für (soziale) Medien produzieren, sind allerdings weder Influencer noch wir „Normaluser“ für die Erstellung von Content ausgebildet. Die wenigsten von uns kennen sich mit journalistischen Regeln und Standards aus. Was wir jedoch als Privatnutzer von Facebook, Instagram und Co bedenken müssen: Auch für uns gelten die gesetzlichen Bestimmungen, beispielsweise hinsichtlich Urheber- oder Persönlichkeitsrecht. Letzten Endes sind wir damit – nicht nur im rechtlichen, sondern auch im ethischen oder moralischen Sinn – auch für die Korrektheit des von uns veröffentlichten Contents verantwortlich. Genauso wenig wie wir am Berg jemanden in die falsche Richtung schicken oder einem Auskunftsuchenden wichtige Informationen zu einer Tour (etwa zu Ausrüstung, Anforderungen oder Schwierigkeit) vorenthalten, dürfen wir mit diesen Informationen im Netz sparen. Falscher oder unvollständiger Content, der im Netzt kursiert, kann zur ernsthaften Gefahr werden.
Der Leser bzw. Produser
Die Vollständigkeit und Korrektheit von Informationen sollen wir aber auch als Rezipient im Blick haben – die, die wir lesen und die, die wir weiterverteilen. Das Interagieren liegt in der Natur von sozialen Medien, jeder User ist also gleichzeitig ein Konsument und ein Produzent von Inhalten, ein Produser. Denn mit jedem Lesen, Klicken, Kommentieren oder mit dem reinen Anschauen von Postings, Bildern oder anderem Inhalt auf Plattformen tragen wir zu dessen Verbreitung bei und sind somit in gewisser Form erneut Content-Produzenten. Dieser Verantwortung müssen wir uns als Nutzer von sozialen Medien bewusst sein.
Im konkreten Fall kann das beispielsweise bedeuten, dass ich einen Tourentrack auf einer Plattform verifiziere, bevor ich ihn über soziale Medien verbreite. Fehlen mir die Kompetenzen dafür, ist es ratsamer, von der Verbreitung abzusehen, um sicherzustellen, dass keine falschen Informationen in Umlauf geraten.
Touristiker und Werbung
Sujets, die jahrelang in der Tourismuswerbung eingesetzt waren, wurden heuer Ziel des Massenansturms. Wollte man als Tourismusverband nicht genau das erreichen? Hatte man nicht genau dafür all die Straßen an entlegene Orte gebaut und die vielen Inserate geschaltet? Gerade von Touristikern kamen teilweise Aufschreie angesichts der Massen, die unterwegs waren. Waren es tatsächlich zu viele Touristen? Oder richtete sich der Aufschrei letztendlich nicht vielmehr gegen die eigene Zunft, die verabsäumt hatte, sich ausreichend und nachhaltig (im Sinne guter Verkehrskonzepte) auf den eigentlich erwünschten Ansturm vorzubereiten?
Alpine Vereine und Hütten
Als letzter in der Runde, ganz sanft und leise, kann man auch noch die Frage nach der Verantwortung alpiner Vereine in den Raum stellen. Und natürlich jene der ihnen zugehörigen Hütten, die ebenfalls auf sozialen Medien Marketing machen.
Unser aller Ansinnen ist es letztendlich, dass immer mehr Menschen ihren Weg in die Berge finden. Um diese Bergsteiger zu betreuen, wurden die alpinen Vereine gegründet, wurden Wege und Hütten gebaut. Als Mitglieder haben wir dies über Jahre unterstützt, waren offen für alle. Nun aber hätte man die Hütten, Berge und alpinen Wege doch wieder gerne für sich, ohne die vielen störenden Neuzugänge unter den Bergwanderern.
Wanderer und Bergsteiger
Und nun ist man schon beim letzten Glied in der Kette: dem Bergsteiger selbst. Gerade als Mitglied eines alpinen Vereins müsste man es eigentlich begrüßen, dass so viele Menschen draußen unterwegs sind. Und ich, als geschultes Mitglied mit ausreichendem Berg-Know-how, bin in der Lage, mir alternative Ziele abseits der Hotspots zu suchen. Ich bin in der Lage, Informationen zu verifizieren. Ich wäre auch in der Lage, falsche oder kritische Angaben richtig zu stellen – ganz ohne erhobenen Zeigefinger, sondern im Sinne einer verlässlichen Informationswiedergabe.
Die Frage der Verantwortung und Eigenverantwortung ist im Jahr 2020 um ein gutes Stück größer geworden. Doch wir sollten uns auch die Frage stellen, ob es immer den anderen als Schuldigen braucht. Braucht es immer Regeln von oben, die uns und andere sanktionieren (lassen), sobald diese nicht eingehalten werden? Oder machen wir von unserer Eigenverantwortung Gebrauch, wählen verlässliche Portale und Medien als Informationsmedien, verifizieren Informationen und ermöglichen es auf diese Weise, Maßnahmen und Handlungen eigenverantwortlich zu setzen?
Gerade im Jahr 2020, als im Frühjahr noch die Befürchtung herrschte, dass im Sommer die Hütten große Verluste einfahren würden, müssten wir uns doch gerade als Hütten-mitfinanzierende-Mitglieder freuen, wenn das Tagesgeschäft gut läuft. Und als Bergsportler müssten wir es doch begrüßen, dass so viele Menschen wieder den Weg in die Natur finden.
Aber so einfach ist es nicht.